Wie diagnostiziert man psychische Erkrankungen?
Psychische Erkrankungen werden mithilfe diagnostischer Manuale erfasst.
Es gibt insgesamt 2 diagnostische Manuale, einmal das DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (kurz: APA) und dann noch das ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation psychischer Krankheiten) der World Health Organisation (kurz: WHO).
In Deutschland ist das ICD-10 gültig, dementsprechend werden psychische Erkrankungen, z.B. im Rahmen von Arzt- und Krankenhausbehandlungen und bei Beantragung einer Richtlinien-Psychotherapie, mit einer entsprechenden ICD-Diagnose verschlüsselt.
Kliniker bedienen sich in der Regel bei der Diagnostik auch am DSM-5.
Ob jemand an einer psychischen Erkrankung leidet, zeigt sich darin, ob er die im Diagnosemanual für die entsprechende Erkrankung festgelegten Kriterien erfüllt. Der Diagnostikergeht alle Kriterien durch und versucht im diagnostischen Gespräch sowie u.U. mit Hilfe psychologischer Testverfahren herauszufinden, ob bei dem Patienten die psychische Erkrankung vorliegt, die seine Beschwerden vermuten lassen.
Wer gilt als psychisch krank?
Ganz generell kann man sagen, dass ein Abweichen von der Norm noch keine psychische Erkrankung darstellen muss, denn was bitte schön ist schon "normal". "Normal" ist ein sehr dehnbarer Begriff: Was in einer Kultur normal ist, kann in einer anderen völlig unnormal sein. Somit bedarf es immer auch einer Betrachtung des kulturellen Hintergrundes einer Person.
Gewöhnlich fühlen sich Menschen mit einer psychischen Erkrankung in ihrem Funktionsniveau leicht/deutlich/stark beeinträchtigt, d.h. vereinfacht: sie können nicht mehr so wie sie wollen bzw. sie funktionieren nicht mehr so wie sie wollen oder es vorher taten.
Ist man in seinem eigenen Handeln, Denken und Fühlen so beeinträchtigt, dass fast nichts mehr geht, dann entsteht Leidensdruck.
Eine psychische Erkrankung geht somit in aller Regel mit einer Beeinträchtigung im Funktionsniveau und einem deutlichen Leidensdruck einher.
Bei manchen psychischen Erkrankungen lässt sich ein Leidensdruck oder eine Einschränkung im Funktionsniveau zunächst vom Betroffenen selbst oder auch der Umwelt auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmen, man denke zum Beispiel an eine Alkoholabhängigkeit.
Lange Zeit denken die Betroffenen sie hätten kein Alkoholproblem und in der Tat funktioniert man damit auch lange Zeit "halbwegs normal".
Auch Nahestehende oder Bekannte wollen ein Alkoholproblem nicht wahrnehmen, er oder sie gehen doch noch einem geregelten Leben nach.
Oder man denkt an eine Person mit einer Manie, die denkt sie habe Superkräfte. Hier zeigt sich der Leidensdruck erst nach der Manie, wenn die Stimmung ins Gegenteil umschlägt. Man eben noch "himmelhoch jauchzend" (voller Selbstbewusstsein und Energie) gestimmt war und nun plötzlich "zu Tode betrübt" ist.
Oder im Rahmen einer psychotischen Störung (Schizophrenie, drogeninduzierte Psychosen, Manie mit Psychose etc.), in der man den Realitätsbezug verliert und nicht erkennt, in welcher Situation man gerade steckt, dass man psychisch krank ist und umgehend einer Behandlung bedarf.
Nicht immer ist also eine Funktionsbeeinträchtigung und/oder ein Leidensdruck auf den ersten Blick ersichtlich, dennoch aber würden Kliniker eine psychische Erkrankung diagnostizieren. Der Verlauf einer Erkrankung und die langfristigen Konsequenzen für einen selbst oder die Umwelt spielen ebenfalls eine bedeutsame Rolle in der Diagnostik psychischer Erkrankungen.
Subklinische Beschwerden
Viele Menschen suchen Beratungen und Psychotherapeuten auf, ohne an einer psychischen Erkrankung im engeren Sinne zu leiden.
Probleme können vielfältig sein und so auch Beschwerden.
Wenn jemand noch keine psychische Erkrankung hat, aber Beschwerden aufweist, deren Verschlimmerung in eine Manifestation einer psychischen Erkrankung führen kann, so sprechen wir Kliniker von subklinischen Beschwerdebildern. An dieser Stelle sei also Vorsicht geboten und es gilt prophylaktisch eine weitere Verstärkung der Symptomatik zu vermeiden.
Hierfür sind Beratungen durchaus sinnvoll und hilfreich. Ist allerdings das Kind in den Brunnen gefallen und eine psychische Erkrankung bereits existent, dann ist Psychotherapie und/oder eine fachärztlich-psychiatrische Behandlung das Mittel der ersten Wahl. Eine bloße Beratung ist dann nicht mehr ausreichend.
Wie werden psychische Erkrankungen psychotherapeutisch behandelt?
Ich selbst wurde in Verhaltenstherapie ausgebildet und orientiere mich an den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (kurz: AWMF). Diese Leitlinien bilden den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur Wirksamkeit aktueller Verfahren bei verschiedenen psychischen Erkrankungen ab, wobei eine S3-Leitlinie der höchsten Entwicklungsstufe entspricht. Die Leitlinien der AWMF werden regelmäßig überarbeitet. Sie geben einen sehr guten Überblick darüber, welche Methoden bei der welcher psychischen Erkrankung auf wissenschaftlicher Basis empfohlen werden können und auch wie gut letztendlich diese Empfehlung selbst ist (bspw. ob die Empfehlung auf Basis guter und hoher Studienlage ausgesprochen wird oder aufgrund einer Konsensbildung einzelner Kliniker).
Die Verhaltenstherapie hält viele verschiedene therapeutische Interventionen bereit, die vor dem Hintergrund der jeweiligen Erkrankung und der ganz individuellen Problem-, Verhaltens- und Lebensanalyse Anwendung finden können.
Als Erstes wird im Rahmen einer Verhaltenstherapie versucht das Problem zu verstehen, mit dem jemand in Therapie kommt und dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte.
Damit beginnt der diagnostische Prozess, bei dem auch zunächst untersucht wird, ob überhaupt eine psychische Erkrankung vorliegt. Welche Symptome liegen seit wann genau vor? Wie intensiv sind diese Symptome? Wie wird die Person in ihrer Lebensführung beeinträchtigt? Wie hoch ist der Leidensdruck? Ergeben die Symptome zusammen das Vorliegen einer psychischen Erkrankung?
In einem zweiten Schritt wird ein Störungsmodell erarbeitet, indem die Entstehungsfaktoren der psychischen Erkrankung und auch die aufrechterhaltenden Faktoren beschrieben werden. Es wird versucht die Fragen zu beantworten, weshalb man gerade jetzt erkrankt (die Ursachen und die Auslöser; Faktor: Entstehung) und weshalb diese Erkrankung nicht einfach weggeht (Faktor: Aufrechterhaltung). Letztere Frage mag komisch anmuten, aber einige (nicht alle!) psychische Erkrankungen haben tatsächlich eine gar nicht so geringe Spontanremissionsrate. Das heißt die Erkrankungen verschwinden ohne jegliche Therapie (sie "remittieren"/bilden sich zurück) und das ganz spontan. Leidet man unter einer potenziell schweren psychischen Erkrankung sollte man allerdings nicht auf eine Spontanremission vertrauen, das Risiko dass sich hier eine chronische Erkrankung mit schwerwiegenden Folgen entwickelt sollte unbedingt vermieden werden.
Die Analyse, was die Erkrankung ausgelöst hat und warum sie nicht einfach so verschwindet benötigt nicht unerheblich viel Zeit, es bedarf hier meist an sehr vielen Übungen zur Selbstbeobachtung und Selbstreflektion. Es gilt die eigenen Gedanken, Überzeugungen (über sich, die Welt), Gefühle und Verhaltensweisen/Handlungen wahrzunehmen, zu begreifen und dahingehend zu untersuchen, welche Vor- und welche Nachteile (d.h. Konsequenzen) sie besitzen (sowohl kurzfristig als auch langfristig).
Es folgt dann die Vermittlung von Störungswissen (Informationen zur Erkrankung, Behandlungsmöglichkeiten, Wirksamkeit, Auftreten von Nebenwirkungen etc.). Der Patient oder die Patientin sollte wie bei körperlichen Erkrankungen auch umfassend über die eigene Erkrankung und die Behandlungsmöglichkeiten/ Grenzen aufgeklärt sein. Und ja, auch eine Psychotherapie kann Nebenwirkungen haben. Man denke bspw. an eine Person, die in der Therapie lernt sich gegenüber anderen abzugrenzen, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Es kann dann passieren, dass sich bestimmte Menschen, ggf. auch Partner, von ihr abwenden oder Ähnliches.
Als Nächstes werden dann gemeinsam die Ziele für die Therapie festgelegt und die hierzu erforderlichen therapeutischen Interventionen. Dies Alles wird in einem Behandlungsplan festgehalten. Regelmäßig wird die Zielerreichung gemeinsam überprüft.
Im therapeutischen Prozess kann es immer wieder vorkommen, dass sich Ziele verändern oder neue Ereignisse auftreten, die einer Neuadjustierung von Zielen oder dem Behandlungsplan erforderlich machen.
Das Ende der Therapie sollte frühzeitig eingeleitet werden. Der Patient oder die Patientin, die im Verlauf immer mehr an Selbstmanagement hinzugewonnen hat, sollte zunehmend in die Rolle des eigenen/ der eigenen Therapeuten/in gefunden haben.
Manchmal kommt es vor, dass in der Therapie ein Stillstand erreicht wird. Sowohl Therapeut als auch Patient merken "es geht nicht wirklich weiter" oder aber "es könnte unendlich so lange weitergehen ohne das aber wirklich etwas passiert". Hier sollten beide gemeinsam analysieren, warum dem so ist und welche Möglichkeiten es nun gibt.
Ist die Therapie bereits so weit fortgeschritten, dass nur noch wenige Stunden vom Gesamt- bzw. Höchstkontingent (in der Regel 60 Sitzungen, maximal 80 Sitzungen in einer Verhaltenstherapie) offen sind, dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem eine Veränderung erfolgen sollte.
Patienten haben dann die Möglichkeit zum Beispiel ein Verfahrenswechsel zu vollziehen, das heißt ein anderes therapeutisches Verfahren durchzuführen.